Predigt in Osternacht 2022 im Augsburger Dom von Bischof Bertram Meier

„Osterwende“ heißt „Wende der Herzen“

Es ist Pascha, Vorübergang des Herrn. Die Juden feiern bis heute dieses Fest und denken daran, wie der Herr die Häuser verschont hat, deren Türpfosten mit dem Blut des Lammes bestrichen waren. Die jüdische Familie versammelt sich zu einem Mahl. Dabei ist es Sitte, dass der jüngste Sohn den Vater fragt: Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen? Der Vater erzählt dann lange Geschichten: von Jahwe, der Welt und Menschen erschaffen hat, von Abraham, von Ägypten, dem Sklavenhaus, und schließlich vom Vorübergang des Herrn: Jahwe verschont die Israeliten und führt sie sicher durch das Rote Meer.

Es ist Pascha, Vorübergang des Herrn. Auch wir feiern dieses Fest, schon drei Tage lang. In dieser Nacht erreicht es seinen Höhepunkt. Was antworten wir, wenn uns jemand fragt: Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen? Können wir überhaupt darauf antworten? Eine ehrliche und überzeugende Antwort geben einem Fremden, einem Freund, dem Mitbruder/der Mitschwester, einem kritischen Zeitgenossen, der nicht glauben kann? Der Frage müssen wir uns stellen. Denn an ihr entscheidet es sich, ob wir uns nicht nur Christen nennen, sondern es auch wirklich sind.

Juden sind gute Geschichtenerzähler. Es sind dieselben Geschichten, die wir aus dem Alten Testament gehört haben. Aber bei uns kommt noch etwas hinzu: das Evangelium, die Frohe Botschaft. Frauen gehen zum Grab, um einem Toten die Ehre zu erweisen: nichts Außergewöhnliches, aber was sie dort erfahren, sprengt alle Vorstellungskraft: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Jesus ist nicht hier, ER ist auferstanden.“ (Lk 24,6)

Diese Nachricht sollen sie den Aposteln weitergeben. Doch die Männer halten es für Geschwätz, Unsinn, Träumerei. Petrus spielt „Tatort-Kommissar“ und

inspiziert das Grab. Dann geht er heim, „voll Verwunderung“ (Lk 24,12). Ratlosigkeit, Kopfschütteln, Erstaunen prägen den Ostermorgen. Doch Stunden später sind dieselben Menschen umgekrempelt: Sie glauben das Unglaubliche. Petrus, der Butterweiche, vertraut felsenfest; er reißt die Mitapostel, die Kirche der ersten Stunde, mit. Aus Informanten werden Zeugen. Wieso glauben diese Leute, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen? Weil sie dem Auferstandenen begegnen, weil sie ihn spüren und tasten, weil er mit ihnen spricht.

Das ist es, was diese Nacht vom jüdischen Pascha unterscheidet: Einst ging der Herr an den mit Blut bestrichenen Häusern vorbei, seit Ostern kommt der Auferstandene auf uns zu. Er nähert sich uns an, er macht sich mit uns auf den Weg. Das leere Grab ist kein wissenschaftlicher Beweis für die Auferstehung (das sehen wir an Petrus), nur die Begegnung mit dem Auferstandenen kann ein Erweis dafür sein, dass Jesus lebt.

Wie schwer fällt es uns, umzudenken, wenn wir herausgerissen werden aus den gewohnten Gleisen - gezwungen, unser Leben radikal zu ändern! Seit zwei Jahren herrscht Krisenmodus. Die Pandemie und der Ukrainekrieg sind nur zwei Beispiele dafür. Von einer „Zeitenwende“ reden die einen, andere fordern „Transformationen“ im Lebensstil, in der Gesellschaft, in der Kirche. Ich spitze es zu: Transformation ja unter der Voraussetzung: Der eigentliche Wendepunkt der Geschichte ist Ostern. Ich plädiere für eine „Osterwende“. Bevor wir die Energiewende umsetzen, eine Verkehrswende und anderes mehr propagieren, brauchen wir eine Wende im Herzen. Einfach „Weiter so“ funktioniert nicht. Wir können die Krisen von heute nicht lösen mit unseren alten Schablonen. Umkehr ist dran. Ich wage die Prognose: Um des Lebens willen werden wir wohl den Gürtel enger schnallen müssen, wir werden ärmer. Wir müssen die Schöpfung schützen. Auch die Kirche braucht neue Formen: Die Kirche in Form bringen wollen viele. Doch Streit keimt auf, wenn es darum geht, wie tief eine Transformation der Kirche gehen kann. Ich bin für Transformation, für eine Umformung des kirchlichen Lebens – aber nicht im Sinn eines neuen Systems, das keinen Stein auf dem anderen lässt.

Jesus will mehr. Er wünscht eine Reform der Herzen. An Ostern hat er eingelöst, was der Prophet Ezechiel ankündigte: „Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Ich beseitige das Herz von Stein (...) und gebe euch ein Herz von Fleisch. Ich gebe meinen Geist in euer Inneres.“ (Ez 36, 26f)

Derzeit treibt ein Gespenst seinen Spuk: Angst geht um. Angst vor der Zukunft, vor Krieg und Inflation; Angst vor Autoritäten, Angst vor Begegnungen, die uns zwingen, manches neu zu sehen und zu ordnen. Der Auferstandene ist kein Angstmacher. Ostern bringt frische Luft: den Duft der Freiheit. Das hat Folgen, auch für die Kirche. Gottes Revolution fängt an, neues Leben ohne Angst, eine Kirche ohne Angst. Der Auferstandene durchkreuzt unser Leben. Mir fällt ein Wort Martin Luthers ein: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der reicht von der Erde bis in den Himmel.“ Manche verbinden mit der Kirche das Gegenteil: einen Kühlschrank. Ich wünsche mir eine Kirche, die den Backofen voller Liebe zeigt. Das wäre die Osterwende.

Bisher haben wir nur die eine Seite der Medaille angeschaut: Der Auferstandene durchkreuzt unser Leben. Drehen wir die Münze um! Indem Er unser Leben durchkreuzt, belebt Er unser Kreuz. Der Auferstandene belebt unser Kreuz. So viele Kreuze schleppen wir mit uns herum, auferlegte und selbst gebastelte: Kreuze von Herkunft und Erziehung, Kreuze von Elternhaus und Charakter, Kreuze gestörter Beziehungen, unabänderliche Kreuze von Krankheit und Ohnmacht. Im Heute leben heißt: Der Auferstandene belebt unser Kreuz.

Was unterscheidet diese Nacht von den andern? Das war die Frage des jüdischen Kindes. Blenden wir uns noch einmal in die Paschafeier ein: Während der Vater Geschichten erzählt, bemerken wir, dass die Tür einen Spalt geöffnet bleibt. Warum? Damit der Messias eintreten kann. Er ist Grund unserer Freude!

Das ist das Besondere dieser Nacht: Seit der Osternacht läuft der Auferstandene frei herum! Wollen wir ihn hereinlassen – wirklich? Dann wird

sich etwas ändern. Dann könnte ER uns ändern. Jesus lebt, mit ihm auch ich. Der mein Leben durchkreuzt hat, ER hat mein Kreuz belebt! Amen. Alleluja.